Corona: Politik als Wille und Vorstellung. Erzählungen einer neuen Welt

Kürzlich hat Robert Habeck, tatsächlich progressiver Gedanken eigentlich unverdächtig, einen irritierenden Vorschlag gemacht. Er sprach davon, nach der Coronakrise „Räte zu gründen, in denen zufällig geloste Bürgerinnen und Bürger das Erlebte diskutieren, über Konsequenzen für die Zeit danach beraten und gesellschaftliche Schlüsse daraus ziehen.“ Das ist zwar einmal mehr halbgar, weil die Räte:innen und die gelosten Bürger:innen nichts entscheiden dürften. Und dennoch bringt Habeck zwei Begriffe ins Spiel, die zumindest radikal klingen: Rät:innen und das Losverfahren.

7. Mai 2020

Kürzlich hat Robert Habeck, tatsächlich progressiver Gedanken eigentlich unverdächtig, einen irritierenden Vorschlag gemacht. Er sprach davon, nach der Coronakrise „Räte zu gründen, in denen zufällig geloste Bürgerinnen und Bürger das Erlebte diskutieren, über Konsequenzen für die Zeit danach beraten und gesellschaftliche Schlüsse daraus ziehen.“ Das ist zwar einmal mehr halbgar, weil die Räte:innen und die gelosten Bürger:innen nichts entscheiden dürften. Und dennoch bringt Habeck zwei Begriffe ins Spiel, die zumindest radikal klingen: Rät:innen und das Losverfahren. Nur wenige Jahre zurück hätte der Grünen-Chef damit rechnen müssen, für solche Vorschläge schlicht ausgelacht zu werden. In Seminaren zur politischen Theorie ist beides nicht unbekannt. Das eine, die Rät:innen, gelten oft als radikal, weil gebunden an die kommunistische Revolution. Das andere, das Losverfahren, hat eher den Status eines theoretischen Gedankenspiels. Schon bei den alten Griechen, denen wir bekanntlich die Idee einer Herrschaft der vielen verdanken, war das Los Praxis: An bestimmten Positionen scheint es sinnvoll, Menschen nicht per Wahl, sondern per Zufall in Amt und Würden zu hieven – das reduziert Korruption und den Einfluss von Lobbygruppen.

Zwar hat Habeck keine ernsthafte Debatte zu einem Umbau demokratischer Institutionen angestoßen. Aber seit die Coronakrise alle gesellschaftlichen Bereiche fest im Griff hat, scheint es immerhin statthaft, auch radikalere oder zumindest radikaler klingende Ideen einzuspeisen. Ganz offensichtlich hat sich das Feld des Politischen geöffnet, vieles ist denkbar. Der Unsinn einer unsichtbaren Hand wird sichtbar, der Trumpismus scheitert am Wirklichen und viel mehr Leute als zuvor ahnen zumindest, dass eine ganz andere Politik nötig und vielleicht sogar möglich ist.

Nach der medizinischen Krise wird viel, wenn nicht alles davon abhängen, wie mit den Schulden, die mit den Corona-Hilfspaketen auflaufen, mittelfristig umgegangen wird. Im Groben gibt es zwei Wege: Entweder die Ideologie des Neoliberalismus, die Dominanz des Marktes vor den Menschen und der angeblichen Vorzüge von Privatisierung und sozialstaatlicher Entsicherung bleiben hegemonial. Für diesen Fall wird sich das, was Jacques Rancière eine Herrschaft des Reichtums (die Oligarchie) umhüllt von einer Scheindemokratie nannte, noch verschärfen. Wir werden – besonders in den USA, aber auch hier – einen entfesselten Klassenkrieg der Reichen gegen die Armen erleben. All jene, die aktuell hoffen, dass wir früher oder später zu einer alten Normalität zurückkehren, würden diese robusten Verschärfungen in Kauf nehmen und – ganz in Stile eines Friedrich Merz – als Freiheit verkaufen. Wenn also weiterhin Schulden verstaatlicht und Gewinne privatisiert werden, läuft es zwangsläufig auf die brutale Herrschaft des Reichtums hinaus, weil die Dimension der Schulden einen brutalen Raubzug erzwingen würde. Das, was selbst der Hardcore-Ökonom Warren Buffet schon vor einer Weile mit Sorge beschrieb, wird auch hierzulande nicht mehr zu übersehen sein: „There’s class warfare, all right, but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.“

Oder eine Art kleiner sozialer Revolution ereignet sich. Bei dieser geht es längst nicht um die Überwindung des Kapitalismus oder ähnlich hochtrabende Überlegungen. Vielmehr stünde eine Wiederauferstehung der Sozialdemokratie an, die diesen Namen verdient – getragen von einer Umverteilung größeren Ausmaßes, mit der sich die Folgen der Krise ziemlich lässig bezahlen ließen. Vermögens- und Gewerbesteuer, der Spitzensteuersatz, Verstaatlichung des Gesundheitswesens etc., die Liste der Maßnahmen ist bekannt. Es ginge nicht darum, den sogenannten freien Markt abzuschaffen, sondern nur darum, die üblen Exzesse eben dieses Marktes rechtlich einzuhegen und mit Umverteilung und sozialer Absicherung den ach so lang erhofften sozialen Frieden herzustellen.

Dafür allerdings ist es unerlässlich, dass sich eine neue Erzählung auf den Weg macht, eine Erzählung, die aus Corona gelernt hat. Die mithilfe von Corona das hat transportieren können, was in kritischen Kreisen schon länger klar war: Markt und Wirtschaft dienen dem Leben der Menschen und nicht umgekehrt. Diese Erzählung hat mit Bernie Sanders in den USA einige Anhänger:innen, vor allem junge Leute. Vielleicht ist es sogar eine Bewegung. Sie heißt nicht zufällig progressive movement. Damit jedoch Erzählungen einer besseren, gerechteren Welt Raum greifen und Einfluss ausüben können, müssen sie wachsen, erzählt und wieder erzählt werden. Sie müssen sich auf den Weg machen, hegemonial zu werden, eine Deutung anzubieten, die nicht nur als Traum verspulter Linker und Utopist:innen gilt. Viele Menschen müssen glauben, dass es möglich ist.

Es gibt also viel zu tun, was die anstehenden und mit der Zeit immer heftiger geführten Deutungsdebatten angeht. Und es ist möglicherweise nicht die Zeit für die ganz feinsinnigen und abgesicherten Analysen, die im Groben durchrechnen, dass die zweite Möglichkeit – die kleine soziale Revolution oder Sanders’ demokratischer Sozialismus – nicht unbedingt wahrscheinlicher ist. Wilhelm Heitmeyer ist unlängst im Interview in der Zeit genau diesen Weg gegangen: Dichte Analyse und folglich düstere Aussichten. Vielleicht hat er Recht, vieles spricht dafür. Vielleicht auch nicht. Denn was die Zeit und Heitmeyer übersehen haben, ist der Umstand, dass genau solche Interviews zu jener Zukunft beitragen, die sie beklagen. Einmal sauber den fast unausweichlichen Weltuntergang durchzuanalysieren, bedeutet auch einen weiteren Schritt in diese Richtung. Medientheoretisch ist es wahrlich keine Neuigkeit, dass Ursache und Wirkung nicht immer so einfach voneinander zu trennen sind, dass also Analyse und self-fullfilling prophecy bisweilen sehr nah beieinanderliegen. Mediale Spinns, Entwicklungen, die vor Corona noch als viral umschrieben wurden, warnen vor etwas, das auf jeden Fall eintritt, weil so intensiv davor gewarnt wurde. Vielleicht sollten wir vom Klopapier lernen: Schon klar, dass sich der eine oder die andere Deutsche aus tief abgelegten und irritierenden Beweggründen für die nächsten Jahre nichts sehnlicher wünscht als einen sauberen Arsch. Viele jedoch folgen einem Trend oder einer medial angeheizten Sorge. Zu einem relevanten Teil hat also die mediale Berichterstattung zur drohenden Knappheit beigetragen. Das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft ist länger schon in einem Rückkopplungsprozess gefangen, der weit mehr von Erzählungen denn von Tatsachen lebt. Die Börsen singen ein Lied davon: Die geglaubte (nicht zwangsläufig glaubhafte) Zukunft bestimmt den aktuellen Wert. Wenn ein paar Leute den Glauben verlieren, wird sich die Zukunft diesem Narrativ beugen, weil die Kurse abschmieren.

Mit den politischen Perspektiven könnte es ähnlich sein: Die vielen Stimmen, die warnen, der Neoliberalismus und die Herrschaft des Reichtums ließen sich so leicht nicht besiegen, arbeiten indirekt und ganz sicher unabsichtlich an deren Überleben, weil sie dazu beitragen, dass weniger Leute an eine wirklich andere, sozialere und solidarische Politik glauben. Vielleicht ist es daher sinnvoller, gerade jetzt permanent, penetrant und notorisch auf den Wahnsinn hinzuweisen, den ein zur Religion erhobener Markt angerichtet hat, um gleichzeitig genauso permanent, penetrant und notorisch zu argumentieren, dass Corona der Wendepunkt sein muss. Die Krise wird uns noch eine Weile begleiten. Das ist einerseits bitter und für viele mit derben sozialen und ökonomischen Härten verbunden. Der Vorteil ist allerdings, dass womöglich genug Zeit bleiben könnte, einer neuen, solidarischen Hegemonie zum Aufstieg zu verhelfen. Die eskalierende Herrschaft des Reichtums ist schließlich kein Naturgesetz, und für den analytisch durchkomponierten Abgesang auf die Moderne und den Hinweis auf das endlose Leiden der Linken ist auch dann noch Zeit, falls es doch schiefgegangen sein sollte.

Das heißt übrigens auch, die AfD und andere rechte Akteure genau dort zu belassen, wo sie aktuell sind: In der Versenkung. Sie haben nichts zur Krisenbewältigung und einer anderen Gesellschaft, nichts zum sozialen Ausgleich beizutragen und irrlichtern dieser Tage frustriert durch die Gegend. Fast verzweifelt wirken ihre Versuche, endlich wieder die Aufmerksamkeit zu bekommen, die sie gewohnt sind und die sie so stark gemacht hat. Es wäre fatal, jetzt oder demnächst der alten Gier, der Obsession an der Aufregung über die bösen Rechten erneut zu verfallen und die rechte Gefahr einmal mehr groß (oder zumindest größer) zu schreiben. Ohne Aufmerksamkeit, ohne das eingeübte Reiz-Reaktionsmuster, hat es die Rechte viel schwerer. Ihre demagogischen Tricks brauchen die große Bühne. Corona hat all das vorläufig abgestellt oder in den Hintergrund gerückt. Und das sollte so bleiben.

Falls es schließlich gelingen sollte, diese Erzählung einer möglichen anderen Welt breit zu streuen und ihr hegemoniale Kraft zu verleihen, dann könnten wir Habecks Vorschlag vielleicht irgendwann ernsthaft diskutieren. Dann könnten geloste Vertreter:innen mit Entscheidungskraft in bestimmten Positionen den Einfluss des Geldes tatsächlich unter Kontrolle bringen.