29. Mai 2020
Mal im Ernst: Wer kannte Attila Hildmann vor sagen wir zwei Monaten? Der eine oder die andere, aber sehr viele hatten keine oder bestenfalls eine grobe Ahnung vom prollig-völkischen Muskelveganer, der behauptet, kochen zu können und alle Zusammenhänge zu kennen. Wie kommt es, dass ein C-Promi mit fleischlosem Stiernacken fast kometenhaft aufsteigen kann? Offenkundig war das nicht so schwer: Er provoziert mit wilden, an bestimmte Kreise anschlussfähigen Thesen und die folgende Erregungswelle spült ihn ganz nach vorn und ein beachtliches Sümmchen auf sein Konto. So läuft das die ganze Zeit. Diese mediale Routine hat auch anderen Knalltüten und allgemein der AfD geholfen. Möglicherweise ist es Zeit für eine Kurskorrektur. Wie wäre es also, die unerbittliche Kraft der Ignoranz auszuprobieren?
Die Linke ist länger schon nicht in bester Form. Tief zerstritten und gegenwärtig reichlich unschlüssig, wie eine bessere, eine gerechtere und vielleicht sogar solidarische Welt erreichbar sein könnte. Genau genommen gibt es noch nicht einmal ein halbwegs klar konturiertes Bild davon, wie diese Welt aussehen soll. Da kam es irgendwie gelegen, dass erst Pegida und die AfD und nun ein paar irre Verschwörungsschwurbler:innen für Schlagzeilen sorgen, weil sich eine fragmentierte und zerrissene Linke dann wenigstens darauf einigen konnte, gegen die neuen faschistischen und biowirren Umtriebe anzutreten. Schließlich ist Antifaschismus eine Tugend und hinter eigentlich jeder Verschwörungsideologie lauert derber Antisemitismus.
So weit, so gut. Dieses Spiel hat allerdings eine Kehrseite, die mittlerweile die einst vorteilhaften Effekte restlos zu überdecken scheint. Beständig und nimmermüde auf entsprechende Missstände hinzuweisen, verhilft den Bekloppten, ihren Deutungen und ihrer Sprache unweigerlich zu enormer Aufmerksamkeit und Reichweite. Doch Aufklärung, wes Geistes Kind die AfD, die Hildmanns und die Naidoos sind, braucht es schon lange nicht mehr. Wer nicht begriffen hat, dass sich da ein neuer Faschismus, eine neue deutsche Blut-und-Boden-Ideologie auf den Weg macht, der will es nicht begreifen. Und dennoch twittern und posten alle fleißig weiter, als gäbe es noch irgendeine Neuigkeit zu berichten.
Kürzlich las ich einen Post bei Twitter. Eine aufgeräumte wie aufräumende Nutzerin hatte ein wirres Plakat von Impfgegner:innen von einer Brücke entfernt. Das Motiv ist offenkundig: Nicht noch mehr Leute sollen schwurbeligem Verschwörungskram ausgesetzt sein. Dass die Kollegin ihre Aktion anschließend auf Twitter teilt, garniert mit vier beeindruckenden Fotos des Plakats – an einem Viadukt perfekt in Szene gesetzt – lässt zugleich die Absurdität sozialer Medien erkennen: Was ein paar Autofahrer:innen im ländlichen Raum nicht sehen sollen, wird umgehend einem viel größeren Publikum im Digitalen zugänglich gemacht. Wäre es mein Plakat, hätte ich vermutlich gedacht: Mission accomplished! Und hätte den Tweet geteilt.
Das ist nur eine Beispiel unter endlosen anderen, die im vorgetäuschten Modus der Aufklärung oder Berichterstattung Dingen und Themen ein Forum geben, das sie nicht verdient haben. Über die eigentliche Motivation lässt sich trefflich streiten. Das Spektrum reicht von Naivität, über ehrliches aber unreflektiertes Entsetzen und dessen Kanalisierung bis zu neurophysiologischen Erklärungsmustern, die Likes als fleischloses Futter fürs Belohnungssystem deuten. Sicher scheint allerdings, dass sich auf diese Weise ein immer gleiches Spiel bedienen lässt, das der kritischen Identität gut tut und dabei hilft, die schwierigen und von Twitter wenig goutierten Fragen nach tatsächlichen Veränderungen zu umschiffen hilft. Zuerst müssen wir noch den letzten verstrahlten Windkraftgegner überzeugen, bevor wir uns auf die Mühen der Ebene begeben, die solidarische Politik hieße. Das ist nachvollziehbar, und ich bin in diesen Dingen keineswegs über jeden Zweifel erhaben. Aber es führt zu nichts.
Schon klar: Die Medien spielen genauso mit und blasen noch den leisesten Furz eines provinziellen AfD-Kaspers zu einer Riesenstory auf, wenn es denn Provokationspotential hat und Klicks verspricht. Das allerdings ist ein anderes Thema, weil eine politische Ökonomie der Medien sie gewissermaßen zwingt, jeden Hype mitzunehmen, Konflikte zu inszenieren und auch dort Gräben zu reißen, wo keine sind. Der Kampf um Marktanteile und Werbeeinnahmen ist nicht zu trennen vom Kampf um Aufmerksamkeit und Skandalisierung. Das ist nicht schön, und die ökonomische Zwangsjacke spricht Leute wie Julian Reichelt keinesweg frei. Allerdings hilft es kaum, diese Themen vom Standpunkt der Moral oder verlorener persönlicher Integrität nachzugehen. Klar, ich frage mich auch, wie es sich so anfühlt, als Bild-Redakteur wissentlich Lügen, schräge Zuspitzungen und ähnliche Dinge in die Debatte einzuspeisen und einen Scheißdreck auf Konsistenz, Plausibilität und Sachlichkeit zu geben. Das muss ein Abgrund sein, und manchmal bin ich mir sicher, dass auch der kleine Julian abends heimlich ins Kissen weit. Die Logik des kapitalisierten und digitalisierten medialen Geschäfts rechtfertigt die Dinge nicht, erklärt sie aber ein Stück weit.
Vielleicht wäre es daher sinnvoll, nach einer politischen Ökonomie der Likes (und Retweets) zu fragen, danach also, welchen quasiökonomischen Reiz es haben könnte, rechten oder verschwörungsideologischen Müll immer wieder nach oben zu spülen. Ohne es empirisch belegen zu können, drängt sich mir dennoch die Vermutung auf, dass solche Inhalte viel besser geteilt und gelikt werden als andere. Schließlich ist das doch der schwache Kit einer Linken: Ihre Arbeit gegen die Bösen. Und wenn klar ist, dass bestimmte Inhalte die Twitter- oder Facebook-Gemeinde in ihrer Wut und Ablehnung zusammenschweißt und zugleich einen schönen Haufen Likes (und vielleicht ein paar neue Follower) aufs Karmakonto verschiebt, dann ist der Reiz gesetzt, mal wieder einen rassistischen Bachmann (eine Tautologie, by the way) oder einen menschenverachtenden Burschenschaftler zu bringen.
Wie wäre es also, zur Abwechslung mal das fiese Muster passiver Aggressivität auszuprobieren und bestimme Dinge schlicht zu beschweigen. Sollen sie doch mit ihren „Gib Gates keine Chance“-T-Shirts meditieren. Das ist so schräg wie lustig, relevant ist es nicht. Sollen sie doch ihre Fans zum zig-tausendsten Mal mit ihren Untergangsfantasien bespielen. Soll Bachmann doch in die AfD eintreten, bitteschön. Sollen sie doch vor dem Bundestag davon schwafeln, dass sie für ihr Land und ihre Freiheit sterben würden. Es wird ihnen weniger Freude machen, wenn niemand zuhört, wenn sich keine:r empört. Attila Hildmann würde schneller wieder Rote Beete kochen gehen und erregt fleischlose Hanteln vorm Spiegel stemmen, wenn er sich nicht genüsslich im „Gegenruhm“ (Sascha Lobo) sonnen könnte. Ich sehe das bockige Kind Alice Weidel schon, wie sie sich vor Wut die Verse kaputtstampft, wenn sie provozieren will, und alle gelassen abwinken. Ignoranz kann eine Waffe sein; auf jeden Fall würde es die üblichen Verdächtigen, die seit Jahren mit der Währung Provokation zahlen, schwer irritieren und auf die Palme bringen. Darüber ließe sich dann lauthals lachen.
Allerdings: Ignoranz ist sicher kein Allheilmittel, manchmal ist Berichterstattung und Skandalisierung richtig und wichtig. Wenn etwa in Radebeul (wir haben als Kinder immer Radebums gesagt, heute weiß ich, warum) ein Tiefbrauner zum Kulturattaché gewählt wird, ist das alle Aufregung wert. Auch dafür gibt es viele Beispiele. Vielleicht ist es nötig, wenigstens behelfsmäßig eine Art Katalog zu erarbeiten, also Kriterien aufzustellen, was wann berichtenswert ist und was nur eines der üblichen Stöckchen ist, über das wir springen sollen. Die Kriterien müssten sich vielleicht an der Frage entlang hangeln, was tatsächlich Folgen hat, was politisch oder sozial für Menschen relevant ist. Hildmann und seine Aluhut-Fraktion würde sicher durchs Raster fallen.